Die stille Epidemie: 
Stigmatisierung verschärft Suchtkrankheiten
Sucht ist kein moralisches Problem, sondern ein medizinisches, mitbedingt durch Veranlagung und biologische Veränderungen, die durch den Konsum eines Suchtstoffes entstehen. Trotzdem werden Betroffene in unserer Gesellschaft noch so behandelt, als fehle es ihnen an Disziplin, Willensstärke oder Charakter. Das treibt Millionen Menschen in Isolation und Scham – und verhindert, dass sie sich ihre Sucht eingestehen und Hilfe suchen. Aus diesem Grund wollen wir mit diesem Fachartikel aufklären und so versuchen der Stigmatisierung von Suchterkrankungen entgegenzuwirken.
Millionen Menschen leiden unter Schuldzuweisungen und Scham
Wie groß das Problem ist, zeigen aktuelle Zahlen: In Europa leidet mehr als jeder elfte Erwachsene laut WHO-Angaben an einer Alkoholabhängigkeit. Jeder vierte Todesfall in der Gruppe der 19–24-Jährigen ist auf Alkoholkonsum und damit in Zusammenhang stehenden Verletzungen zurückzuführen. In Deutschland sind aktuellen Zahlen zufolge knapp 2,2 Millionen Menschen alkoholabhängig, 1,7 Millionen zeigen ein problematisches Konsummuster.
Trotzdem hält sich hartnäckig das Vorurteil des „selbstverschuldeten Problems“. Diese Überzeugung ist nicht nur falsch, sie negiert auch die biologischen und gesellschaftlichen Ursachen; sie stigmatisiert Betroffene und belastet Angehörige von Menschen mit Suchterkrankungen, deren Zahl man in Deutschland auf 10 Millionen schätzt.
Wille allein kann keine Sucht überwinden
Jahrhundertelang wurde Sucht moralisch bewertet und als Willensschwäche ausgelegt. Die neurobiologische Forschung zeigt aber, dass es eben kein Problem des Wollens ist. Sucht verändert das Gehirn. Bei jeder Aktivierung des dopaminergen Belohnungssystems stärkt das Gehirn die Verbindung zwischen Konsum und positiven Empfindungen wie Entspannung, Sicherheit oder Freude. Da Alkohol und Drogen dieses System deutlich stärker stimulieren als natürliche Reize, bewertet das Gehirn den Konsum unbewusst als besonders bedeutsam, ähnlich wie ein Verhalten, das dem Überleben dient.
Durch Lernprozesse verändern sich die neuronalen Verschaltungen im Laufe der Zeit. Reize, die mit dem Konsum verbunden sind, aktivieren dann automatisch das Belohnungssystem, und noch bevor eine bewusste Entscheidung möglich ist, löst das Gehirn Verlangen aus. Das Suchtgedächtnis schaltet den Körper auf Autopilot. Der Wille, z. B. sozial angemessen nicht zu trinken, bleibt zwar bestehen, doch die Fähigkeit, ihn umzusetzen, ist gehemmt, weil die Aktivität im präfrontalen Kortex, der für Kontrolle und Abwägung zuständig ist, herabgesetzt ist. Das Gehirn hat gelernt, schneller zu handeln, als der Verstand eingreifen kann.
Ein fortgesetzter Konsum, selbst bei negativen körperlichen, psychischen und sozialen Folgen, ist daher kein Versagen, keine Schwäche, sondern eine Konsequenz der Konsumgewohnheiten, die man unter dem Einfluss gesellschaftlicher Bedingungen meist in der Jugend erlernt hat. Diese Erkenntnis ist jedoch noch zu wenig im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert.
Stigmatisierung verhindert eine angemessene Behandlung
Suchtkranke werden diskriminiert – am Arbeitsplatz, im Gesundheitssystem und sogar in ihren Familien. Stigmatisierungen erschweren es Betroffenen, sich ihre Erkrankung einzugestehen und Hilfe zu suchen, das gilt umso mehr nach Rückfällen. Psychologen sprechen vom „Rückfallschock“, einem Zustand tiefer Scham nach einem erneuten Konsum, der manche noch tiefer in die Abhängigkeit treibt. Dabei ließe sich die Rückfallrate erheblich senken, wenn Scham- und Schuldgefühle thematisiert und zugleich die Leistungen und Anstrengungen des Suchtkranken bei der Bewältigung seiner Abhängigkeit gewürdigt werden. In einer Studie zur Leistungssensiblen Suchttherapie (LST), die genau diesen Ansatz verfolgt, blieben 92 % der Teilnehmenden während der Behandlung abstinent, verglichen mit 66 % in der Kontrollgruppe.
Warum es wichtig ist, die Funktion von Stigmatisierungen zu verstehen
Stigmatisierungen kann man nur wirksam beeinflussen, wenn man versteht, woraus sie entstehen und welche Funktionen sie für stigmatisierende wie auch für stigmatisierte Personen sowie auf gesellschaftlicher Ebene erfüllen. Stigmatisierung beruht auf dem Zusammenspiel dreier Komponenten: Stereotype (verallgemeinernde negative Annahmen über bestimmte Gruppen), Vorurteile (emotionale Zustimmung zu diesen Annahmen, etwa in Form von Angst oder Ablehnung) und Diskriminierung (benachteiligendes Verhalten auf der Handlungsebene). Dieser Prozess setzt eine grundlegende soziale Kategorisierung voraus: die Einteilung in „Wir“ und „die Anderen“.
Stigmatisierung dient Selbstwertstabilisierung und Angstabwehr
Stigmatisierungen erfüllen für stigmatisierende Personen verschiedene innerpsychische Funktionen. Sie ermöglichen es, sich von als „abweichend“ empfundenen Menschen abzugrenzen und dadurch kurzfristig das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Dieser Mechanismus des sozialen Abwärtsvergleichs kann dem Einzelnen (zumindest kurzfristig) ein Gefühl von Überlegenheit oder Normalität geben.
Stigmatisierungen können aber auch der Angstabwehr dienen: Indem Suchtkranke als „anders“ oder „selbstverschuldet“ markiert werden, lässt sich die eigene Verletzlichkeit abwehren. Die Abgrenzung von Menschen mit einer Suchterkrankung hilft, sich selbst als kontrolliert und sicher zu erleben und vermeidet die Auseinandersetzung mit der eigenen psychischen Verletzlichkeit und der Angst vor Kontrollverlust oder Ausgrenzung.
Selbststigmatisierung reduziert kognitive Dissonanz
Selbststigmatisierung bezeichnet die Internalisierung öffentlicher Vorurteile. Bei Suchterkrankungen entsteht sie häufig aus einem inneren Konflikt zwischen dem eigenen moralischen Anspruch („Ich sollte Kontrolle haben“) und dem tatsächlichen Verhalten (Konsum trotz negativer Folgen). Dieser Widerspruch erzeugt kognitive Dissonanz, also ein Spannungsgefühl, das Menschen dazu motiviert, Inkonsistenzen zwischen Selbstbild und Verhalten aufzulösen.
Indem Betroffene gesellschaftliche Stereotype wie „Ich bin schwach“ oder „Ich bin schuld“ übernehmen, wird diese Dissonanz verringert, allerdings auf Kosten des Selbstwertgefühls. Die Folge sind Scham, sozialer Rückzug und Hoffnungslosigkeit. Studien zeigen, dass Selbststigmatisierung zu verspäteter oder abgebrochener Behandlung, geringerer Therapietreue und schlechteren Behandlungsergebnissen führen kann.
Strukturelle Stigmatisierung verfestigt gesellschaftliche Normen
Auf gesellschaftlicher Ebene dienen Stigmatisierungen der Aufrechterhaltung bestehender Normen und Machtverhältnisse. Indem Suchtkranke als „verantwortungslos“ oder „selbst schuld“ dargestellt werden, können sich andere Gruppen als „angepasst“ und „leistungsfähig“ definieren. Diese Vorstellung stabilisiert das Ideal des kontrollierten, produktiven Individuums und zementiert soziale Hierarchien. Sie entlastet die Gesellschaft davon, strukturelle Ursachen wie Armut oder soziale Ungleichheit anzuerkennen und geht zulasten Betroffener.
Wichtig: Stigmatisierung von Abhängigkeit ist kein unvermeidlicher sozialer Mechanismus, sondern Ausdruck menschlicher Wahrnehmungs- und Denkprozesse. Dazu zählen kognitive Vereinfachungen (Kategorienbildung, um Komplexität zu reduzieren), soziale Vergleichsdynamiken (zur Selbstwertstabilisierung) und die Verfestigung bestehender Machtstrukturen. Diese Mechanismen sind erlernt und damit veränderbar – etwa durch Bildung, Kontakt und bewusste gesellschaftliche Reflexion.
Entstigmatisierung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Entstigmatisierung ist keine Aufgabe Einzelner, sondern eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung. Sie erfordert Bildung, Forschung, politische Unterstützung und kontinuierliche Reflexion. Die Gesellschaft muss lernen, Sucht als chronische Erkrankung zu begreifen, die nichts mit Charakterschwäche zu tun hat. Veränderung beginnt schon mit der Sprache. Eine stigmatisierungsfreie Sprache verzichtet auf moralische Wertungen und ersetzt Schuld durch Verständnis. Auch Medien tragen Verantwortung: Faire, differenzierte Darstellungen können das öffentliche Bild von Sucht wandeln, indem sie Genesung und Bewältigung sichtbar machen.
Um Stigmatisierungen abzubauen und das Annehmen von Hilfe zu fördern, ist Aufklärung zentral. Das beginnt in Schulen und Medien, aber auch in Unternehmen. Arbeitgeber, die Suchtbeauftragte benennen und offen über Prävention sprechen, können Betroffenen frühzeitig eine Brücke zu professioneller Hilfe bauen.
Eine Investition in Prävention lohnt sich auch wirtschaftlich
Eine Umverteilung der Tabak- und Alkoholsteuern könnte die Finanzierung von Therapieprogrammen absichern. Laut OECD-Studie zur Verhütung von schädlichem Alkoholkonsum könnte jeder Dollar, der in ein umfassendes Maßnahmenpaket investiert wird, bis zu 16 Dollar an wirtschaftlichen Vorteilen erzielen.
Das Manifest zur Entstigmatisierung
Auf dem Deutschen Suchtkongress 2025 wurde auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) ein wichtiges Zeichen gesetzt, das alle großen medizinischen Verbände und federführenden Einrichtungen gezeichnet haben – auch die My Way Betty Ford Klinik®. Das „Manifest zur Entstigmatisierung“ fordert gleiche Rechte und faire Behandlung für Betroffene, die aktive Beteiligung von Menschen mit Suchterkrankungen in der Forschung und eine sachliche, nicht-diskriminierende Berichterstattung.
Der Ansatz ist zukunftsweisend – und längst überfällig. Denn Stigmatisierung ist keine Nebensache. Sie ist das unsichtbare Gift, das Heilung verhindert. Eine Gesellschaft, die Suchtkranke respektiert und unterstützt, gewinnt nicht nur Menschlichkeit, sondern wirtschaftliche und gesundheitliche Stabilität. Sucht ist keine Schwäche. Ignoranz schon.
Fachartikel der My Way Betty Ford Klinik® im Staatsbad Bad Brückenau, Entzugsklinik und Suchtklinik für Privatpatienten & Selbstzahler.
Über die My Way Betty Ford Klinik®
Die My Way Betty Ford Klinik® ist die führende Sucht- und Entzugsklinik und als einzige private Einrichtung in Deutschland nach FVS/DEGEMED 5.0 und DIN EN ISO 9001:2015 zertifiziert. Seit 2006 bietet die My Way Betty Ford Klinik® in Bad Brückenau ein intensives und einmaliges Therapieprogramm für Privatpatienten und Selbstzahler. Die Klinik mit Spezialisierung auf Suchterkrankungen und deren Begleiterkrankungen erfüllt höchste Qualitätsstandards und bietet eine im hohen Maß weit über den gesetzlichen Datenschutz hinausgehende Diskretion. Die My Way Betty Ford Klinik® gewährleistet rund um die Uhr eine ärztliche Versorgung, die Besetzung des Pflegepersonals ist darüber hinaus überdurchschnittlich hoch. Die Ausstattung der 49 Patientenzimmer liegt im gehobenen Hotel-Standard. Zudem bestehen Möglichkeiten zusätzlicher Therapieangebote sowie der Nutzung des Wellness- und Spa-Bereichs des Vier-Sterne-Dorint Hotels zur Unterstützung einer erfolgreichen Therapie.
Pressekontakt
My Way Betty Ford Klinik GmbH
Sven Marquardt
Heinrich-von-Bibra-Straße 35 · 97769 Bad Brückenau
E-Mail: sven.marquardt@mywaybettyford.de | Web: www.mywaybettyford.de